The Complete Brothers Grimm Fairy Tales
This collection of "classics" certainly is a departure from the Disney versions. The tales are mostly very dark and pessimistic, as originally recorded by the Brothers. For the more "colourful" children's stories it is better to buy the specific tales from the bookstore instead of a collective book.
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Brüderchen und Schwesterchen
der Brüder Grimm
Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach: "Seit die
Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr; die Stiefmutter
schlägt uns alle Tage und stößt uns mit den
Füßen fort. Die harten Brotkrusten, die übrigbleiben, sind
unsere Speise, und dem Hündchen unter dem Tisch geht's besser, dem
wirft sie doch manchmal einen guten Bissen zu. Daß Gott erbarm, wenn
das unsere Mutter wüßte! Komm, wir wollen miteinander in die
weite Welt gehen."
Sie gingen den ganzen Tag, und wenn es regnete, sprach das Schwesterlein:
"Gott und unsere Herzen, die weinen zusammen!" Abends kamen sie in einen
großen Wald und waren so müde von Jammer, vom Hunger und von dem
langen Weg, daß sie sich in einen hohlen Baum setzten und
einschliefen.
Am andern Morgen, als sie aufwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel
und schien heiß in den Baum hinein. Da sprach das Brüderchen:
"Schwesterchen, mich dürstet, wenn ich ein Brünnlein
wüßte, ich ging' und tränk' einmal; ich mein', ich
hört' eins rauschen."
Brüderchen stand auf, nahm Schwesterchen an der Hand, und sie wollten
das Brünnlein suchen. Die böse Stiefmutter aber war eine Hexe und
hatte wohl gesehen, wie die beiden Kinder fortgegangen waren, war ihnen
nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen, und hatte alle Brunnen
im Walde verwünscht.
Als sie nun ein Brünnlein fanden, das so glitzerig über die
Steine sprang, wollte das Brüderchen daraus trinken; aber das
Schwesterchen hörte, wie es im Rauschen sprach:
"Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger,
wer aus mir trinkt, wird ein Tiger."
Da rief das Schwesterchen: "Ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht,
sonst wirst du ein wildes Tier und zerreißt mich." Das
Brüderchen trank nicht, obgleich es so großen Durst hatte, und
sprach: "Ich will warten bis zur nächsten Quelle."
Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen, wie
auch dieses sprach:
"Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf,
wer aus mir trinkt, wird ein Wolf."
Da rief das Schwesterchen: "Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht,
sonst wirst du ein Wolf und frissest mich." Das Brüderchen trank nicht
und sprach: "Ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber
dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst; mein Durst ist
gar zu groß."
Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein,
wie es im Rauschen sprach:
"Wer aus mir trinkt, wird ein Reh,
wer aus mir trinkt, wird ein Reh."
Das Schwesterchen sprach: "Ach, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst
du ein Reh und läufst mir fort." Aber das Brüderchen hatte sich
gleich beim Brünnlein niedergekniet, und von dem Wasser getrunken, und
wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein
Rehkälbchen.
Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte
Brüderchen, und das Rehchen weinte auch und Saß so traurig neben
ihm. Da sprach das Mädchen endlich: "Sei still, liebes Rehchen, ich
will dich ja nimmermehr verlassen." Dann band es sein goldenes Strumpfband
ab und tat es dem Rehchen um den Hals und rupfte Binsen und flocht ein
weiches Seil daraus. Daran band es das Tierchen und führte es weiter
und ging immer tiefer in den Wald hinein.
Und als sie lange, lange gegangen waren, kamen sie endlich an ein kleines
Haus, und das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es:
"Hier können wir bleiben und wohnen." Da suchte es dem Rehchen Laub
und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen ging es aus und sammelte
Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Rehchen brachte es zartes
Gras mit, war vergnügt und spielte vor ihm herum. Abends, wenn
Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen
Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, darauf
es sanft einschlief. Und hätte das Brüderchen nur seine
menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen.
Das dauerte eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren.
Es trug sich aber zu, daß der König des Landes eine große
Jagd in dem Wald hielt. Da schallte das Hörnerblasen, Hundegebell und
das lustige Geschrei der Jäger durch die Bäume, und das Rehlein
hörte es und wäre gar zu gerne dabeigewesen.
"Ach", sprach es zum Schwesterlein, "laß mich hinaus in die Jagd, ich
kann's nicht länger mehr aushalten", und bat so lange, bis es
einwilligte. "Aber", sprach es zu ihm, "komm mir ja abends wieder, vor den
wilden Jägern schließ' ich mein Türlein; und damit ich dich
kenne, so klopf und sprich: 'Mein Schwesterlein, laß mich herein!'
Und wenn du nicht so sprichst, so schließ ich mein Türlein nicht
auf."
Nun sprang das Rehchen hinaus und es war ihm so wohl und es war so lustig
in freier Luft. Der König und seine Jäger sahen das schöne
Tier und setzten ihm nach, aber sie konnten es nicht einholen, und wenn sie
meinten, sie hätten es gewiß, da sprang es über das
Gebüsch weg und war verschwunden. Als es dunkel ward, lief es zu dem
Häuschen, klopfte und sprach: "Mein Schwesterlein, laß mich
herein." Da ward ihm die kleine Tür aufgetan, es sprang hinein und
ruhete sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus.
Am andern Morgen ging die Jagd von neuem an, und als das Rehlein wieder das
Hifthorn hörte und das "Ho ho!" der Jäger, da hatte es keine Ruhe
und sprach: "Schwesterchen, mach mir auf, ich muß hinaus." Das
Schwesterchen öffnete ihm die Tür und sprach: "Aber zu Abend
mußt du wieder da sein und dein Sprüchlein sagen." Als der
König und seine Jäger das Rehlein mit dem goldenen Halsband
wiedersahen, jagten sie ihm alle nach, aber es war ihnen zu schnell und
behend. Das währte den ganzen Tag, endlich aber hatten es die
Jäger abends umzingelt, und einer verwundete es ein wenig am
Fuß, so daß es hinken mußte und langsam fortlief.
Da schlich ihm ein Jäger nach bis zu dem Häuschen und hörte,
wie es rief: "Mein Schwesterlein, laß mich herein", und sah,
daß die Tür ihm aufgetan und alsbald wieder zugeschlossen ward.
Der Jäger ging zum König und erzählte ihm, was er gesehen
und gehört hatte. Da sprach der König: "Morgen soll noch einmal
gejagt werden."
Das Schwesterchen aber erschrak gewaltig, als es sah, daß sein
Rehkälbchen verwundet war. Es wusch ihm das Blut ab, legte
Kräuter auf und sprach: "Geh auf dein Lager, lieb Rehchen, daß
du wieder heil wirst." Die Wunde aber war so gering, daß das Rehchen
am Morgen nichts mehr davon spürte. Und als es die Jagdlust wieder
draußen hörte, sprach es: "Ich kann's nicht aushalten, ich
muß dabeisein!"
Das Schwesterchen weinte und sprach: "Nun werden sie dich töten, und
ich bin hier allein im Wald und bin verlassen von aller Welt, ich lass'
dich nicht hinaus."
"So sterb' ich dir hier vor Betrübnis", antwortete das Rehchen, "wenn
ich das Hifthorn höre, so mein' ich, ich müßt' aus den
Schuhen springen!"
Da konnte das Schwesterchen nicht anders und schloß ihm mit schwerem
Herzen die Tür auf, und das Rehchen sprang gesund und fröhlich in
den Wald. Als es der König erblickte, sprach er zu seinen Jägern:
"Nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in die Nacht, aber daß ihm
keiner etwas zuleide tut." Sobald die Sonne untergegangen war, sprach der
König zum Jäger: "Nun komm und zeige mir das Waldhäuschen."
Und als er vor dem Türlein war, klopfte er an und rief: "Lieb
Schwesterlein, laß mich herein."
Da ging die Tür auf, und der König trat herein, und da stand ein
Mädchen, das war so schön, wie er noch keines gesehen hatte. Das
Mädchen erschrak, als es sah, daß ein Mann hereinkam, der eine
goldene Krone auf dem Haupt hatte. Aber der König sah es freundlich
an, reichte ihm die Hand und sprach: "Willst du mit mir gehen auf mein
Schloß und meine liebe Frau sein?"
"Ach ja", antwortete das Mädchen, "aber das Rehchen muß auch
mit, das verlass' ich nicht."
Sprach der König: "Es soll bei dir bleiben, solange du lebst, und es
soll ihm an nichts fehlen." Indem kam es hereingesprungen; da band es das
Schwesterchen wieder an das Binsenseil, nahm es selbst in die Hand und ging
mit ihm aus dem Waldhäuschen fort. Der König nahm das schöne
Mädchen auf sein Pferd und führte es in sein Schloß, wo die
Hochzeit mit großer Pracht gefeiert wurde, und es war nun die Frau
Königin, und sie lebten lange Zeit vergnügt zusammen; das Rehlein
ward gehegt und gepflegt und sprang in dem Schloßgarten herum.
Die böse Stiefmutter aber, um derentwillen die Kinder in die Welt
hineingegangen waren, die meinte nicht anders als, Schwesterchen wäre
von den wilden Tieren im Walde zerrissen worden und Brüderchen als ein
Rehkalb von den Jägern totgeschossen. Als sie nun hörte,
daß sie so glücklich waren und es ihnen so wohlging, da wurden
Neid und Mißgunst in ihrem Herzen rege und ließen ihr keine
Ruhe, wie sie die beiden doch noch ins Unglück bringen könnte.
Ihre rechte Tochter, die häßlich war wie die Nacht und nur ein
Auge hatte, die machte ihr Vorwürfe und sprach: Eine Königin zu
werden, das Glück hätte mir gebührt."
"Sei nur still", sagte die Alte und sprach sie zufrieden, wenn's Zeit ist,
will ich schon bei der Hand sein."
Als nun die Zeit herangerückt war und die Königin ein
schönes Knäblein zur Welt gebracht hatte und der König
gerade auf der Jagd war, nahm die alte Hexe die Gestalt der Kammerfrau an,
trat in die Stube, wo die Königin lag, und sprach zu der Kranken:
"Kommt, das Bad ist fertig, das wird Euch wohltun und frische Kräfte
geben; geschwind, eh' es kalt wird." Ihre Tochter war auch bei der Hand,
sie trugen die schwache Königin in die Badstube und legten sie in die
Wanne. Dann schlossen sie die Türe ab und liefen davon. In der
Badstube aber hatten sie ein rechtes Höllenfeuer angemacht, daß
die schöne junge Königin bald ersticken mußte.
Als das vollbracht war, nahm die Alte ihre Tochter, setzte ihr eine Haube
auf und legte sie ins Bett an der Königin Stelle. Sie gab ihr auch die
Gestalt und das Ansehen der Königin; nur das verlorene Auge konnte sie
ihr nicht wiedergeben. Damit es aber der König nicht merkte,
mußte sie sich auf die Seite legen, wo sie kein Auge hatte. Am Abend,
als er heimkam und hörte, daß ihm ein Söhnlein geboren war,
freute er sich herzlich und wollte ans Bett seiner lieben Frau gehen und
sehen, was sie machte. Da rief die Alte geschwind: "Beileibe, laßt
die Vorhänge zu, die Königin darf noch nicht ins Licht sehen und
muß Ruhe haben." Der König ging zurück und wußte
nicht, daß eine falsche Königin im Bette lag.
Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die
in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein noch wachte, wie
die Tür aufging und die rechte Königin hereintrat. Sie nahm das
Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und gab ihm zu trinken. Dann
schüttelte sie ihm sein Kißchen, legte es wieder hinein. Sie
vergaß aber auch das Rehchen nicht, ging in die Ecke, wo es lag, und
streichelte ihm über den Rücken. Darauf ging sie wieder zur
Tür hinaus, und die Kinderfrau fragte am andern Morgen die
Wächter, ob jemand während der Nacht ins Schloß gegangen
wäre, aber sie antworteten: "Nein, wir haben niemand gesehen." So kam
sie viele Nächte und sprach niemals ein Wort dabei; die Kinderfrau sah
sie immer, aber sie getraute sich nicht, jemand etwas davon zu sagen.
Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Königin in der Nacht
an zu reden und sprach:
"Was macht mein Kind?
Was macht mein Reh?
Nun komm' ich noch zweimal
Und dann nimmermehr."
Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war,
ging sie zum König und erzählte ihm alles. Sprach der König:
"Ach Gott, was ist das? Ich will in der nächsten Nacht bei dem Kinde
wachen." Abends ging er in die Kinderstube, aber um Mitternacht erschien
die Königin und sprach:
"Was macht mein Kind?
Was macht mein Reh?
Nun komm' ich noch einmal
Und dann nimmermehr"
und pflegte dann das Kind, wie sie gewöhnlich tat, ehe sie verschwand.
Der König getraute sich nicht, sie anzureden, aber er wachte auch in
der folgenden Nacht. Sie sprach abermals:
"Was macht mein Kind?
Was macht mein Reh?
Nun komm' ich noch diesmal
Und dann nimmermehr."
Da konnte sich der König nicht zurückhalten, sprang zu ihr und
sprach: "Du kannst niemand anders sein als meine liebe Frau." Da antwortete
sie: "Ja, ich bin deine liebe Frau", und hatte in dem Augenblick durch
Gottes Gnade das Leben wiedererhalten, war frisch, rot und gesund.
Darauf erzählte sie dem König den Frevel, den die böse Hexe
und ihre Tochter an ihr verübt hatten. Der König ließ beide
vor Gericht führen, und es ward ihnen das Urteil gesprochen. Die
Tochter ward in den Wald geführt, wo sie die wilden Tiere zerrissen,
die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und mußte jammervoll verbrennen.
Und wie sie zu Asche verbrannt war, verwandelte sich das Rehkälbchen
und erhielt seine menschliche Gestalt wieder; Schwesterchen und
Brüderchen aber lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende.
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